Montag, 23. Mai 2011,

18 Kilometer
von Fontenois-la-Ville
nach Dampierre-lès-Conflans
(150 Einwohner)

Die erste Etappe

Ein herrlicher Morgen

begleitet uns zum Frühstück,

das man auf dieser Tour an jeder Station für den nächsten Tag, zum Einheitspreis von 5 Euro, vorbestellen kann.

Mit Jacky, dem Wagen- und Pferde-Chef, sind wir um neun verabredet. Wir schlendern mit ihm durch das weitläufige Tal der 15 Hektar großen Gemeindeweide.

Über den Bach geht es den gegenüberliegenden Hang hinauf, wo seine equiden Residenten, wie wohl jeden Morgen, im Schatten der heute schon früh stechenden Sonne unter einer Baum- und Buschreihe dösen.

Überraschend bereitwillig lässt sich „unser“ lebendiger Motor zu einer Woche Arbeit verpflichten, alias den Führstrick am Halfter einklinken. DEVISE ist ihr Name, sie ist 17 Jahre alt, eine stolze Comtois-Stute.

DEVISE

Seit acht Jahren ist sie in Diensten der Gemeinde Fontenois-la-Ville. In einem Unternehmen, das seine Existenz seit mehr als 23 Jahren dem Enthusiasmus und Wagemut ihres Bürgermeisters, seiner Budget-Verwalter und nicht zuletzt seiner Bürger verdankt.

Das Unternehmen „Roulottes“ ist mittlerweile zu einer Erfolgsgeschichte geworden, wie Jacky sagt, nicht zuletzt dank DEVISE und ihrer 24 Mitakteurinnen. Starke, ruhige, souveräne Wesen, Comtois-Stuten, die jedes Detail ihrer Arbeit genauestens kennen und beherrschen.

Ich darf DEVISE zur Station führen. Irgendwie fühle ich mich geehrt. Ein beeindruckendes, gutes Gefühl neben einer derart wuchtigen Pferdegestalt zu gehen. Gut, dass ich als Pferde-Anfänger inzwischen (Dank Wolfi!) zu mindestens schon so viel gelernt habe, dass DEVISE mit  ihrer Brust stets hinter meiner Schulter bleiben muss, wenn ich möchte, dass sie MEINER Führung folgt.

Ließe ich sie „höflich vorgehen“, verstünde sie das in ihrer Sprache als: „Liebe DEVISE, führe Du mich wie und wohin Du möchtest!“ und das wäre wohl eher ein kleiner Sprint an eine andere Stelle dieses Tales, als einen Zigeunerwagen eine Woche lang täglich 15 Kilometer durchs Land zu bewegen. Bei ihren 700 bis 800 Kilogramm Körpergewicht und entsprechender Muskelkraft haben meine 90 "KMMM" (Kilo mickrige Menschen-Masse) nicht die geringste Chance, sie daran zu hindern.

Obwohl DEVISE mir in meiner Position, leicht vor ihrer Brust, neben ihrem Kopf, bereitwillig folgt, bin ich mir nicht sicher, ob sie mich in jeder Situation als ihren „Chef“ anerkennt. Sie wird mir in der Woche mehr als einmal - und sicher zu Recht - deutlich zeigen, was ich in Sachen Pferde-Dominanz (schon/noch/nicht) beherrsche.

Vor der Station, am Anbinde Platz, erhält DEVISE als erstes Granulé, DAS GRANULÉ, ein Trocken-Kraft-Futter-Konzentrat mit unwiderstehlicher Wirkung auf eine Grande Dame aus der Familie der Comtois.

Allein das Geräusch geschüttelten Granulats im gelben Eimer sollte DEVISE, ganz gleich in welcher Seelenlage und aus welcher Distanz, ihre adelig proletarische(!) Zurückhaltung vergessen lassen. Ein entfernt an Infraschall-Kommunikation von Elefanten erinnerndes Husten-Stakkato aus drei bis fünf Tiefbasslauten innerhalb etwa einer Sekunde, wohl im Bronchienbereich erzeugt, signalisiert offensichtlich freudige Erregung und das Tier setzt sich unverzüglich in Richtung Granulé-Schall-Quelle in Bewegung, auch wenn damit eine nachfolgende Arbeitsverpflichtung verbunden ist. Im wahrsten Wortsinn, DER running gag unserer Woche mit DEVISE.

Unter den strengen, aber auch freundlich geduldigen Augen von Jacky legen wir DEVISE nun das Geschirr an und spannen sie auf dem Parkplatz vor „unseren“ Wagen. Zur Sicherheit fährt Jacky das Gespann durch den Rundbogen vor die Station an die Dorfstraße und übergibt die Leine erst dort an den neuen Kutscher.

Mit „Allez DEVISE!“ beginnt gegen 11 Uhr unsere erste Etappe der Tour de Bohémien 2011.

Jacky begleitet uns zu Fuß auf dem ersten halben Kilometer, gibt Tips zum Gebrauch der Fußbremse, aber auch mal zum Verzicht darauf, wenn das routinierte Arbeitspferd, ganz aus eigenem Antrieb, zum Schwungholen vor einem ansteigenden Straßenabschnitt, energisch zu traben oder gar zu galoppieren beginnt.

Gerade noch rechtzeitig fällt uns ein, dass Devise unterwegs verdursten müsste, da wir vergessen haben, die Wasserbehälter im Wagen an der Station zu füllen. Jacky verspricht uns, wenn wir exakt der Route im Plan folgen, werde er uns etwa nach der Hälfte der Strecke zur Mittagspause Wasser bringen.

Mit: „Au revoir, à dimanche et bonne chance!“ entlässt er uns mit DEVISE, einem knallroten Gummi-Planen-Wagen und mit uns selbst auf dem Bock, „en Route pour le Pays des Bohémiens“, auf der Straße nach Zigeunerland.

Den Zweiertakt ihres hypnotisch schwingenden Hinterteils, ihrer Strohmähne und ihres einlullend nickenden Kopfes vor Augen, den Vierertakt der Hufe in den Ohren, zuckeln wir gemütlich und bei herrlichem Sonnenschein hinein in die wellige Landschaft am nördlichen Rand der Franche-Comté, dem Departement Haute-Saône, an der Grenze zum nördlich anschließenden  Departement Vosges (Vogesen, die südliche der vier Provinzen Lothringens).

Schon auf den ersten Kilometern werden wir von fast allen Verkehrsteilnehmern ausdrücklich rücksichtsvoll wahrgenommen, häufig lächelnd gegrüßt. Oft nähern sich Autos von hinten so leise, dass ich mir einen Rückspiegel gewünscht hätte, um DEVISE rechtzeitig so weit wie möglich nach rechts navigieren zu lassen. Die zeigt nämlich einen beständigen Linksdrall, die unwiderstehliche Neigung, den Mittelstrich der Straße zwischen ihre Hufe zu nehmen.

Auch jetzt ist wieder ein Auto hinter uns, das aber nicht überholt, obwohl wir betont rechts fahren. Sein Fahrer ist Jacky. Viel früher als erwartet hat er uns mit einem gefüllten 20-Liter-Wasserkanister eingeholt. Nun muss DEVISE nicht mehr verdursten. Merci, Jacky!

Um die heißesten Stunden der Mittagszeit ist jeweils eine mindestens 90-minütige Pause für die Pferde vorgeschrieben. Eine Tour-Mappe mit ausführlicher Wegbeschreibung und Straßen-Karte für jede Tagesetappe enthält Angaben zu möglichen Rastplätzen.

Die Übersichts-Karte der Tour #1 de Fontenois-la-Ville

Der für den Montag soll  kurz hinter dem Dorf Jasney sein. Ich halte eine ruhige, schattige, grasige Stelle, etwas abseits und hinab von der Straße, für hervorragend geeignet und lenke – was ich dafür halte – DEVISE dort hin. Die macht zwar noch den Rechtsschwenk an den Straßenrand mit, bleibt dann aber angewurzelt stehen und ignoriert jede meiner Aktionen an den beiden Enden des Hanfstricks und folglich in ihrem Maul, jede verbale Aufforderung, geradezu aufreizend gleichmütig.
Na, denn eben nicht, Madame.

Nur ein paar Hundert Meter weiter, ein Wiesenstreifen am Straßenrand, eine Lichtung im Wald mit einem großen Schattenbaum: DAS ist DEVISEs Rastplatz. Hierhin zieht sie den Wagen und uns mit Schwung, lässt sich hurtig ausschirren und grast emsig im Umkreis ihres Anbindeplatzes an der Kutschbank.

Schon hier zeigt sich ein quälendes Problem für Pferde im Sommer: Blut saugende Insekten, Bremsen, je wärmer und feuchter, desto mehr!

Da fast alle Wege unserer Tour mehr oder weniger in der Nähe von Bächen, Flüssen, Teichen, Seen oder Kanälen verlaufen, sollte die Bremsen-Plage für DEVISE neben der unwiderstehlichen Anziehungskraft des Granulé der zweite laufende, allerdings extremst lästige "Running Gag" der Woche werden.

Jackys Rat folgend funktionieren wir einen fast drei Meter langen Buchenspross zu einer pferdegerechten Fliegen-Klatsche um.

Wie oberägyptische Sklaven mit Wedel bewaffnet, vertreiben wir nicht nur während der zweistündigen Pause Myriaden von Schnaken, Bremsen, Mücken, Fliegen und sonstiges fliegendes Geziefer von vielen, vielen Quadrat-Zentimetern DEVISEs Körperoberfläche.

Im pausenlosen Dienst der Pferde-Vampir-Abwehr, adeln Elke am Ende des Tages Blasen an ihren bis dato handwerklich „jungfräulichen“ Handflächen.

Gut, dass wir die Kutsch-Handschuhe dabei haben. Entsprechendes gilt nämlich auch für meine Pensionisten-Alabaster-Händchen, die „keine Ahnung“ von kernigen Hanfstricken haben.

Eine weitere Unterrichtseinheit mit Lehrerin DEVISE absolvieren wir, als der Weg kurz hinter dem Dorf Varigney in eine enge Waldpassage führt: Ohne für mich erkennbare Vorwarnung beginnt unser Bio-Motor mit einer Galoppade der absolut nicht gelassenen Art. Bremsend gedachte Leineneinwirkungen des Kutschers beantwortet sie in flottester Fahrt mit unwirschen Wendungen des Kopfes und entsprechenden, Gott-sei-Dank nur Andeutungen des Körpers. Die ersten Anzeichen eines sehr unguten Schlingerns des Wagens halten sich in Grenzen. Keine Fußbremse der Welt bekommt einen Stich gegen die Naturgewalt dieses großen Tieres mit noch viel größerem, furchtsamen Herzen.

Eine Erfahrung, die adrenalinverstärkt bestätigt, was uns Silvia Hagemeyer schon vor einigen Wochen zu unserem bassen Anfänger-Erstaunen, dennoch glaubhaft verkündet hat: Einspänner sind schwerer zu fahren als Zweispänner.

Besonders mit einem lebhaften Pferd vor einem Einspänner braucht es einen sehr versierten Menschen, der möglichst unmittelbaren und „wissenden“ Kontakt zum Pferd hat. Eine Sorte, zu der ich (noch?!) nicht gehöre.

Sobald die „hohle Gasse“, die offenbar irgendwie bedrohlich auf sie wirkt, hinter uns liegt, fällt DEVISE wieder in den beruhigenden Arbeitsschritt. Gott sei's getrommelt und gepfiffen! ...

Die schmucklos ungeschminkte – deprimierende könnte ich gar nicht sagen – Lehre für mich: Mach Dir nichts draus, egal, was Du tust oder willst, DEVISE weiß genau, wie es und wo es lang geht.

Immerhin begleiten wir sie zum ersten Mal auf Wegen, die sie seit mehr als acht Jahren, fast die Hälfte ihres Pferdelebens, schon hunderte Male zurückgelegt hat.

Ein Schwenk ihrer Ohren scheint uns zu sagen: „Aber stellt Euch ruhig vor, die großen Lenker zu sein. Wenn Ihr mir, so gut es geht, die sechsbeinigen Terroristen vom Leib haltet und mir die Kutsche bergab nicht in die Beine rollen lasst, dann bin ich vollkommen zufrieden mit Euch. Den Rest lasst mich nur machen.“

Nach beinahe 18 Kilometern geht es durch endlose Kornfelder leicht aber beständig bergauf nach Dampierre-les-Conflans, dem Ziel der ersten Etappe ...

Und DEVISE beginnt zu traben, erhöht das Tempo weiter und wählt mit Karacho eine Graseinfahrt links am Dorfeingang ... - wo uns schon ein freundlich winkender Mensch erwartet und auf eine von alten Bäumen beschattete Wiese lenkt.

Nicht zum letzten Mal ein Erlebnis des "Pferd-Stall-Reflexes": Je näher der Stall, um so schneller das Pferd.

Pierre Thévenot heißt unser erster Gastgeber. Nach dem Ausspannen geleitet er uns mit DEVISE zu deren Anbinde-Platz zum Abschirren und Füttern. Nachdem sie ihr heißgeliebtes Granulé verschlungen hat, kommt sie zur Pinto-Comtois-Stute HERMINE und einem Schaf auf die verdiente Weide, wo sie die Nacht in einem sehr pferdegerechten Unterstand verbringen kann.

Das Heim der Thévenots ist ein beneidenswert lebenswert erscheinendes Haus im Stil der Region, Typ Chalet, mit relativ flachem, weit herabgezogenem Satteldach.

Vom Sohn des Hauses (der in einem stationären Wohnwagen auf seinem "Arbeitsplatz" residiert) gärtnerisch äußerst ansehnlich umpflegt, bietet es uns, neben dem bereits erwähnten, sehr schönen, schattigen Parkplatz für unsere Roulotte (und als überzeugenden Kontrapunkt zum dämlichen Baumarkt-Slogan: Bäume gehören in den Wald!),

angenehme, weil für Mitteleuropäer gewohnte sanitäre Möglichkeiten in Form „normaler“ (Keramik-Sitz!-)Toiletten.

Zum Table d’Hôtes (Pardon, für diese minimal-ästhetische Verbal-Nachbarschaft; aber sie ist schließlich doch auch sehr biologisch), das wir in Fontenois-la-Ville für heute abend bestellt haben, genießen wir gemeinsam mit Claudine, der Chefin der Küche und Pierre Thévenot:

Eine Terrine de Lapin (Hase),
Bratkartoffeln,
Grünen Kopfsalat,
Eis mit Erdbeeren (Fraises),
Trauben-Grappa (de Raisins), Apfelsaft, Rotwein und Mirabellen-Schnaps.
Zum Abschluss: Käse; Mir schmeckt ganz besonders der
Comté und Elke der Munster, zwei nachhaltige Entdeckungen dieser Woche.

Der stolze Vater und Landwirt im Ruhestand, Pierre erzählt uns von seiner Tochter, die unter anderem auch in Köln Gastronomie lernte und die als Weinfachfrau, als Sommelière, einen erfolgreichen Auftritt bei VOX hatte.

Danke, Claudine und Pierre, für den schönen Abschluss des ersten Zigeunerwagen-Tages.

Noch ein letzter Blick auf den überraschend niedrigen „Säge“-Horizont der Vogesenberge, wie sie die letzten Sonnenstrahlen des Tages unter den östlichen Nachthimmel malen.

Wir plumpsen, wohlig geschafft, in unser großes Roulotte-Bett. Beide mit einem leichten Schwindelgefühl, wie man es kennt, wenn man nach einem längeren Aufenthalt auf einem Schiff wieder festen Boden unter den Füßen hat.

Etwa ein ähnliches Phänomen „nicht zusammen passender“ Eindrücke verschiedener Sinne, Gleichgewicht, Drehbeschleunigung, Sehen?!? Ein horizontal schwingender Rücken vor dem vertikal wippenden Kopf des Pferdes mit der fast ungefederten "Abbildung" aller Unebenheiten der Straßenoberfläche im Kreuz vor einer "wandernden" Landschaft ...? –

Bemerkenswert.


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